Durch Ostmitteleuropa
Polen, Ukraine, Slowakei:
An die Grenze des Abendlandes
mit Prof. Dr. Dr. Ulrich Matthée

Als ich gefragt wurde, wohin meine nächste Urlaubsreise führen würde, war ich versucht, zu antworten: "durch Osteuropa". Nahezu jeder Pole oder Slowake wird darüber traurig, er möchte zu Mitteleuropa gehören. Der Osten beginnt weiter hinten, nicht an Oder, Neiße oder auf dem Kamm des Erzgebirges. Erkunden Sie mit mir, wo tatsächlich das Abendland endet.

Der alte Osten ist untergegangen. So taten sich einige Mitglieder unserer Reisegruppe aus dem Freundeskreis des Kieler Historikers Prof. Ulrich Matthée schwer, an der Gedenkstätte "Seelower Höhen" auszusteigen. In einer Ton-Bild-Schau wird in diesem Museum deutlich, wie der Traum vom "Lebensraum im Osten" im Granatenhagel versank.

Nun bitte ich Sie, mich als Sohn eines heimatvertriebenen Mannes aus Hinterpommern nicht in eine bestimmte politische Ecke zu stellen, wenn ich dieses Klagelied über die Verluste des schrecklichsten aller Kriege anstimme. Die Kultur und Wirtschaft im Osten wurden über Jahrhunderte von den beiden "A" geprägt: den Auslandsdeutschen, von denen es außerhalb der Reichsgrenzen etwa 10 Millionen gab, und den Aschkenasim, also den jiddisch sprechenden Ostjuden. Über deren Spuren - und die hoffnungsvollen Neuanfänge der Nationalstaaten Polen, Ukraine und Slowakei - möchte ich Ihnen berichten.

Die Wege im Osten sind weit, die Straßen oft schlecht ausgebaut, das Fahrtempo deswegen langsam; die Landschaft ist still und in den Städten, die wie im Ostteil unseres eigenen Landes von innen nach außen wieder aufblühen, vergisst man die Hektik des Westens.
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Vorbei an Poznan, also Posen, fahren wir nach Lodz (manche schreiben Lodsch). Liebhaber des Jugendstils kommen in der Stadt etwa der Größe Hannovers oder Leipzigs auf ihre Kosten. Immer weiter nach Osten geht es an die Weichsel nach Kasimierz Dolny, das "Rothenburg Polens".
Dieses kleine, beschauliche Städtchen hat sich für die zahlreichen Touristen herausgeputzt, mit seinen beiden Häusern mit sehr plastischen Stuckfassaden (Bild links). Die niedrigen Gebäude mit Laubengängen rund um den Marktplatz deuten uns an: Wir sind angekommen in Ostmitteleuropa.

Im alten und mit seiner Universität auch wieder jungen Lublin sehen wir auch graue Fassaden mit bröckelndem Putz. Solche Häuser geben uns ehrlich Auskunft, in welch bescheidenen Verhältnissen über Jahrzehnte und Jahrhunderte fast alle Menschen leben mussten. Wir setzen uns in ein Straßenlokal und lassen uns bei tief stehender Abendsonne ein Pivo (slawisch für Bier) bringen.

Hinter wehrhaften Festungsmauern fanden wir tags darauf ein unerwartetes Kleinod in Ostpolen: Zamosc (sprich Samosch). Nach streng geometrischem Muster liegt der quadratische Marktplatz in der Mitte, von dessen Ecken die nur wenigen Straßen ausgehen. Teils in den Platz hinein ragt das Rathaus mit seinem hohen barocken Turm und der weit ausladenden Freitreppe. Die Bürgerhäuser an seiner Seite tragen Stuckfiguren und auf ihren Mauerkronen herrliche Attiken. Wohlhabende armenische Fernhandelskaufleute haben sie bauen lassen. Wer hätte das gedacht!

Ob Sie es glauben oder nicht: Zamosc hat eine berühmte Tochter, unterer deren Plakette am Geburtshaus der Autor ehrfurchtsvoll niederkniete: Roza Luksemburg, so die originale Schreibweise. Sie war bekanntlich Jüdin. In der Stadt stoßen wir auf die erstaunlich gut erhaltene Synagoge, in der heute eine Leihbibliothek untergebracht ist.

Verlassen Sie mit mir nun das heutige Polen über die abgezäunte künftige EU-Außengrenze in die West- ukraine, den verlorenen Osten Polens. Gerade von Lemberg, Lvow nennen es die Polen und Lviw die Ukrainer, Leopolis auf Lateinisch und das bedeutet Löwenstadt, konnten sich viele alte Polen nur schweren Herzens trennen. Auf nach Lemberg, in das K.u.K. österreichische Kronland Galizien!

Galizien, werden sich einige von Ihnen wundern, das liegt doch in der Nordwestecke Spaniens. In der Tat, im deutschen Sprachgebrauch gibt es zwei Landschaften gleichen Namens. Die spanische geht auf gälisch bzw. keltisch zurück, die ehemals österreichische dagegen auf Halicz (sprich Chalitsch). Im Bild rechts: Brotverkäuferin an einer Straßenecke in Lviw unter Gedenktafel für Scholom Alechem
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Lemberg mutet in der Tat heute noch an wie das Wien des Ostens. Stattliche Gründerzeit-Fassaden an den gepflasterten Straßen, über die Straßenbahnen rumpeln, viele Kirchen und das Theater- und Opernhaus vermitteln uns einen hauptstädtischen Eindruck.

Vor und in den Kirchen der verschiedensten Konfessionen spüren wir die Armut: Bettlerinnen und Bettler, Kinder, Mütter, alte Menschen, sind dankbar für jeden Griwna. Die meisten Galizier gehören der uniatischen Kirche an, deren Gotteshäuser zwar mit Ikonenwand, aber mit Kanzel, ausgestattet sind, trotz ihres orthodoxen Ritus jedoch mit dem Papst in Rom uniert sind. Folgerung: Wir sind immer noch in Mitteleuropa, noch nicht im byzantinisch-russisch- orthodoxen Osteuropa.

Vom ganz passablen Hotel "Dnister", gemeint ist der große Fluss zum Schwarzen Meer, fahren wir weiter nach Osten. Die Straße ist streckenweise zwei- bzw. vierspurig, führt über eine sog. Rollbahn. So bezeichnen wir die rund 100 Meter breiten von Baumreihen gesäumten Trassen, auf denen früher bei Tauwetter neben der ausgefahrenen Spur einfach eine neue gebildet wurde, und wieder eine, und ... Das Gras zwischen Asphalt und Bäumen wird zum Hüten der eigenen Kuh am Abend genutzt; an den Straßen liegen auch die Garten ähnlichen Felder, auf denen immer nur so viel Gemüse angebaut wird wie die Familie braucht, und vielleicht noch etwas für den Verkauf an einer Straßenecke in der Stadt. "So wie früher", sagte spontan mein Vater, als ich ihm dies erzählte.

Brody. Sie kennen nicht Brody. Was ist Brody? Eine Stadt. Eine kleine Stadt. Es war eine Judenstadt. 15.000 der damals 18.000 Einwohner waren Juden. Von ihnen, den Aschkenasim, ist nicht viel geblieben: ein halber Friedhof, der Rest ist Acker geworden, und eine eingefallene Synagoge. Und Joseph Roth.

Der Schriftsteller Roth mag stellvertretend stehen für viele Ostjuden, die in einfachsten Verhältnissen hart an der Grenze zur Armut, aber stets in Würde, lebten. Mancher Mann, der die strengen religiösen Regeln hoch achtete, aber mangels Ertrag bringender Arbeit nur auf seinen Gott vertraute, ging hier morgens erwartungsvoll auf die Straße - und hoffte auf ein Wunder. Doch so viele Wunder konnte selbst der stärkste Herrgott nicht leisten, so der mit uns gereiste Literaturkenner Prof. André.

Hinter Brody wechselt die Landschaft. Auf Hügelland am Abhang der Karpaten folgt eine weite Tiefebene: Wolhynien. Wir haben sie erreicht: die Grenze des Abendlandes.
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Sie beginnt in Narwa am finnischen Meerbusen und endet bei Dubrovnik an der Adria. Bis hier strahlen die Errungenschaften der mitteleuropäischen Reformwellen, von Reformation, Humanismus, Aufklärung, Freiheitsrechten und der Kultur der Stadt mit ihrer Selbstverwaltung des kaufmännischen Bürgertums; die Stadt magdeburgischen Rechts erkennbar an ihrem längsrechteckigen Marktplatz, in (und nicht an) dem das Rathaus steht. In der Orthodoxie jedoch herrscht geistiger Stillstand, seit über 1000 Jahren. Und dieser geistige Gegensatz trennt uns West- und Mitteleuropäer von den Hilfe stets von oben erwartenden Osteuropäern, vielleicht für immer.
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Wir fahren wieder nach Westen, queren den Karpaten-Kamm, und kommen durch die schon leicht ungarisch geprägte Karpato-Ukraine in die Slowakei. Erholen wollen wir uns in der Zips.

In 24 Städten und viel mehr Dörfern siedelten Deutsche seit dem 12./13. Jahrhundert, die von den ungarischen Königen ins Land geholt wurden. In der idyllischen Stadt Leutschau, heute Levoca, hatten wir im Hotel Satel Quartier, wo schon Altbundespräsident von Weizsäcker verweilte. Sehr angetan waren wir von den vergoldeten gotischen Schnitzaltären des Meister Paul (unten links).

Die Rückreise führte über Krakau (mit dem Judenviertel Kasimierz, Bild vom Friedhof oben) durch das ganze Schlesien mit dem stolzen Brieg (Brzeg) und Breslau, das heutige Wroclaw, eine sehr lebendige Stadt. Die Aula Leopoldina ist zwar mit dem Piasten-Adler leicht polonisiert, aber immer noch eine der schönsten Europas (unten rechts).

Meine Empfehlung: Erkunden Sie den Osten. Und: "Lieber ein Schwips in der Zips als zuviel Pivo in Krakow" (31.08.2000).

Text und Fotos: Manfred Maronde, Sangerhausen
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(Veröffentlicht in "Wir über uns", Zeitung von und für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kreissparkasse Sangerhausen, Ausgabe 27, Dezember 2000/Januar 2001)
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