Die Landgrafschaft Hessen,
die Waldeck'schen, Solms'schen und Nassau'schen Lande -
Burgen, Schlösser, Residenzen, Fachwerkstädte und Klöster
Landgraf Philipp der Großmütige
mit Prof. Dr. Dr. Ulrich Matthée, Kiel
Exkursion vom 20. bis 26. Mai 2004

1 Die Hauptpersonen
1.1 Wappen
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Hessen hat heute den silbern-roten, siebenmal geteilten (achtmal gestreiften) Löwen im Wappen. Dieser unterscheidet sich vom thüringischen durch die umgekehrte Farbfolge, d.h. am Kopf mit silbern beginnend. Zu Landgraf Philipps Zeit bestand das vierfeldrige Wappen:  Katzenelnbogen (links oben), Ziegenhain (links unten), Nidda (rechts oben) und Diez (rechts unten). (Foto am Schloss von Melsungen)

1.2 Biografie von Philipp
Philipps Vater, Landgraf Wilhelm II., starb 1509, als sein Land von zahlreichen Unruhen geschüttelt wurde. 1 Philipp, am 13. November 1504 zu Marburg an der Lahn geboren, 2 war eben fünf Jahre alt und unfähig zu regieren. Im März 1518 setzte sich seine Mutter, Anna von Mecklenburg, durch, und ließ Philipp mit 13 ½ Jahren von Kaiser Maximilian I. für mündig erklären.

Als Philipp die Macht übernahm, hatte ein Jahr zuvor Martin Luther die Reformation eingeleitet. Dieses Gedankengut wurde von Philipp geduldet und verbreitete sich rasch in Hessen. 1524 trat - wohl unter Philipp Melanchthons Einfluss - Philipp der Reformation nahe, das Evangelium sei „rein" zu verkündigen. Philipp wurde 1526 zum Gründer der ältesten evangelischen Landeskirche überhaupt.

Das Jahr 1526 war in dreifacher Weise ein Schicksalsjahr, wie Prof. Matthée ausführte. Kaiser Karl V. hatte einen Drei-Fronten-Krieg zu bestehen: 1. hatten die Türken die Ungarn bei Mohács geschlagen und marschierten auf Wien zu, 2. gründete König Franz I. die Liga von Cognac, mit der sich Frankreich, England, Florenz, Venedig und der Papst gegen das habsburgische Spanien verbündeten 3 und 3. verweigerte ihm Papst Clemens VII., ein Medici, die Kaiserkrönung. Karl machte Not gedrungen dieses Zugeständnis: Die Reichsstände mögen eigenständig vor Gott die konfessionelle Entscheidung treffen, bis ein Weltkonzil diese überprüfen werde, das jedoch nie statt fand. Er war fest entschlossen, alles rückgängig zu machen.

Drei Jahre danach, 1529, hatte sich die Lage entspannt: Die Türken wichen zurück, mit Frankreich wurde Frieden geschlossen und Karl wurde in Bologna gekrönt. Karl konnte so alle Konzessionen wieder einkassieren.

Die Landgrafschaft war eng mit dem damals mächtigsten und größten Erzbistum, Mainz, verflochten. Philipps Entscheidung zur Reformation hatte in jedem Fall von vorn herein auch politische Bedeutung. In Südhessen lehnten sich Franz von Sickingen und Götz von Berlichingen (den kennen Sie wohl) gegen ihn auf. Im Bauernkrieg 1525 schlug Philipp schnell die Aufständischen in Fulda und Hersfeld, wie er 1534/35 dem aus Münster vertriebenen Bischof Franz von Waldeck beisprang.

1525 gründeten u.a. Georg von Sachsen und der Erzbischof von Mainz den „Dessauer Bund" gegen Aufstände und die „lutherische Sekte". Dagegen schlossen Hessen und Kursachsen 1526 das „Gotha-Torgausche Bündnis". Auf dem Reichstag in Speyer 1529 wurde das Wormser Edikt von 1521, mit dem Luther in die „Acht" erklärt wurde, eingeschärft, die Reichstagsbeschlüsse von 1526 wurden aufgehoben. Dagegen protestierte Landgraf Philipp als Führer einer kleinen Ständegruppe - mit Kurfürst Johann von Sachsen, Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, Markgraf Georg von Ansbach, Graf Wolfgang von Anhalt und 14 Städten -  im Reichstag, der „Protestanten", wie sie hinfort genannt wurde. 4 Philipp förderte tatkräftig die Reformation. Im Jahr 1529 wurde auf der Homberger Synode der Entwurf der „Reformatio ecclesiarum Hassiae" von den hessischen Ständen fast einstimmig angenommen. Auf Luthers Rat („Haufen Gesetze") ließ Philipp ihn aber nicht durchführen.

Dennoch ließ Philipp die etwa 40 hessischen Klöster auflösen. Mit den Worten von Prof. Matthée gesprochen: Philipp nahm den fetten, reichen katholischen Kloster- und Stiftsbesitz ohne Kirchenstrafen ein. Aus dem Erlös wurden vier Hospitäler (Merxhausen, Haina, Gronau und Hofheim) und sonstige Wohlfahrtseinrichtungen (sog. „Gemeiner Kasten") geschaffen. Vor allem diente das Klostervermögen der neuen Universität Marburg, genannt „Philippina", die Philipp am 30. Mai 1527 - als erste protestantische Hochschule überhaupt - gründete.

Der Landgraf war bestrebt, Alliierte für ein Verteidigungsbündnis gegen Kaiser und Papst zu gewinnen. Luther selbst hat sich diesen Versuchen widersetzt, in denen er eine Umwandlung seines theologischen Anliegens in ein Instrument der Politik befürchtete. Philipp initiierte 1529 das „Marburger Religionsgespräch" (Bild rechts) zwischen Luther und Zwingli, der längst zum bewaffneten Widerstand entschlossen war.
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Luther hat die Gespräche an der Abendmahlsfrage scheitern lassen. Danach wurde der „Schmalkaldener Bund" - ein Verteidigungsbündnis der Protestanten mit Kursachsen, drei Fürsten, zwei Grafen und elf Städten - 1531 vorbereitet, dem Philipp zeitweise als Bundeshauptmann vorstand. Philipp war auch aus politischen Gründen an der Einheit des Protestantismus interessiert.
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Durch seine 1540 geschlossene Nebenehe - der ersten morganatischen Ehe überhaupt - mit Margarethe von der Saale, einem sächsischen Edelfräulein, in die er auch Luther und Melanchthon (Beichtrat) hinein zog, kam Philipp in große Bedrängnis. Als Bigamist dem kaiserlichen Halsgericht verfallen, war er auf Kaiser Karl V. Gnade angewiesen. Im geheimen Regensburger Vertrag von 1541 gab Philipp zwar nicht seinen Glauben preis.

Aber die politischen Vertragsbestimmungen (Frankreich und England nicht in den Schmalkaldischen Bund aufzunehmen) schwächten die Reformation. Im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 wurde bald nach Kriegsbeginn der Kurfürst von Sachsen besiegt. Damit musste sich Philipp nach der Schlacht bei Mühlberg (Elbe) „auf Gnade und Ungnade" dem Kaiser unterwerfen, der ihn bis 1552 in den Niederlanden einkerkerte, als ihn Moritz von Sachsen befreite. 5

Prof. Matthée nennt Moritz den „Judas von Sachsen", weil er im Schmalkaldischen Krieg die Fronten wechselte, um den Kurhut von Sachsen an sich zu ziehen. Dann brachte er ein geheimes Bündnis protestantischer Fürsten gegen die kaiserliche Übermacht zu Stande und erlangte 1552 im Vertrag zu Chambord die Hilfe Frankreichs; der Passauer Vertrag von 1552 gab den deutschen Protestanten ihre kirchenpolitische Freiheit zurück. 5a Auf dem Reichstag zu Augsburg 1555 wird der Religions- und Landfriede Wirklichkeit; Kaiser Karl V. dankte ab und teilte sein Weltreich auf seine beiden Söhne Ferdinand (Kaiserwürde und Österreich) und Philipp II. (Spanien, Italien, Niederlande) auf. 5b
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Schon die Zeitgenossen nannten den Landgrafen „Philippus Magnanimus", den Großmütigen. Im Gedächtnis blieb Philipp „nicht als der versagende, sondern als erfolgreicher Führer und Vorstreiter seiner evangelischen Mitfürsten" haften. Philipp war der „Vater des politischen Protestantismus". Nach Prof. Matthée gilt Philipp als Förderer der Künste und Schloss-Bauherr, als Herrscher der Renaissance mit der typischen Sinnlichkeit, Bau-, Macht- und auch Wolllust, der nach Machiavelli die Staats-Vernunft, -Klugheit, und -Räson höher stellte als das Edle und Gute der Herrscher vorheriger Epochen.

1.3 Philipps Nachfolger
Philipps letzte Jahre wurden durch das Testament von 1560 und Erbauseinandersetzungen überschattet, die nach seinem Tod zur Teilung des Landes führten. Die sieben Söhne mit Margarethe hatten den Titel „Grafen zu Diez", von ihnen waren sechs bis 1575 schon gestorben, und Graf Christoph starb nach langer Haft 1603 in Ziegenhain. Erbberechtigt waren nur die vier legitimen Söhne, und zwar:

1. Wilhelm IV. erhielt Hessen-Kassel (+ 1592) und damit fast die Hälfte,
2. Ludwig IV. bekam Hessen-Marburg (+ 1604),
3. Philipp II. Hessen-Rheinfels (+ 1583) und
4. Georg I. Hessen-Darmstadt (+ 1596).

Philipp II. starb kinderlos, ebenso Ludwig IV. Während Philipps Territorium relativ reibungslos zum großen Teil an Hessen-Kassel fiel, entstand um Ludwigs Erbe ein Streit, der fast ein halbes Jahrhundert andauerte. Kassel hatte sich immer weiter der Denkweise Calvins zugewandt, während Darmstadt am orthodoxen Luthertum fest hielt. Erst Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648, in dem sich Kassel der protestantischen Union anschloss, Darmstadt aber mit der katholischen Liga (!) paktierte, wurde der Erbstreit beigelegt. 6

Wilhelm IV., der von 1567 - 92 regierte, wurde „der Weise" genannt. Er war ein großer Sammler, insbes. von Werken nordischer Maler, und schuf eine große Landesbibliothek. Er ließ die erste Sternwarte bauen. Neun Sprachen konnte er fließend, ließ Kirchenlieder komponieren, auch Konzerte und Dramen schreiben und Werke von Shakespeare als erster in Deutschland aufführen. Mit dem Ottonium entstand in Kassel der erste feste Theaterbau. Die Fulda ließ Wilhelm schiffbar machen von Kassel bis Hersfeld.

Moritz, sein Sohn, der bis 1627 regierte, genannt „der Gelehrte", konvertierte durch den Einfluss seiner Frau Juliane von Nassau 1603 vom Luthertum zum Calvinismus, also von der niederdeutschen, Wittenberger zur oberdeutschen Reformation. Das strenge, zerstörerische Bilderverbot wurde eingeführt. Die „Philippina in Marburg wurde umgestaltet, weshalb Professoren und Studenten bedrängt wurden und nach Gießen übersiedelten.  

Nachdem das Edikt von Nantes 1689 aufgehoben worden war, kam es in Frankreich zur Vertreibung der Hugenotten. Landgraf Karl von Hessen-Kassel nahm viele auf. Die Hugenotten waren zum großen Teil Handwerker, die die einheimische Wirtschaft mit bedeutenden Impulsen belebten.

Der Aufbau kostete viel Geld, das Karls Enkel bzw. Wilhelms VIII. Sohn, Friedrich II. mit dem Verkauf oder der Vermietung von Soldaten einnahm. Einer der Schlossführer sagte uns jedoch, diese Soldaten wären vertraglich abgesichert gewesen, sie seien meist erst in der 11., 12. und 13. Reihe aufgestellt worden. Vor allem während des Siebenjährigen Krieges waren zeitweise bis zu 20.000 Mann ausgeliehen worden.

1.4 Luther und Calvin
Zur Frage, worin die Unterschiede der beiden Reformatoren liegen, hielt uns Prof. Matthée einen Vortrag. Martin Luther galt als eher zögernd, unstetig, unpolitisch. Er steht für die Anlehnung an den Fürsten, die Bindung vom Altar mit dem Thron. Er hielt Distanz zum Zins nehmen, trotz des frühen Kapitalismus, der entstehenden Banken und Börsen seit 1534.
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Johann Calvin (Cauvin), französischer Herkunft, war ein leidenschaftlicher Fanatiker. Er geriet 1536 in Genf in Streit mit den Anhängern der freieren, weniger strengen Lehre Zwinglis. Er gründete nach 1541 die reformierte Kirche und führt ein strenges Kirchenregiment. 7

Matthée charakterisiert Calvin als nüchtern, zupackend, stetig. Er war 26 Jahre jünger als Luther, hochpolitisch und hatte einen machiavellischen Machtsinn und trieb Propaganda. Er stand eher auf Distanz zum Fürsten und für ein kirchliches Eigenleben, d. h. einen Ältestenrat an der Spitze, genannt das Presbyterium.


Zur Abendmahlsfrage stellt er sich indifferent, ob sie eine symbolische Handlung darstellt oder - wie von Luther vertreten - als Transsubstanzion Brot und Wein zu Leib und Blut Christi verwandelt. Nach Calvin ist jedem Menschen vorher bestimmt, welchen Platz er beim Jüngsten Gericht einnehmen wird. Andererseits kann er hierzu einen Beitrag leisten. Zwar kann niemand durch milde Taten Gottes Gnade erlangen, aber wer weiß, wozu Gott den Einzelnen ausersehen hat. Einer engen, elitären Gemeinde ist es erlaubt, in qualifizierter, Ergebnis orientierter Arbeit Erträge anzuhäufen. Der Mensch müsse nachher widerstehen, diese Güter schnöde zu verprassen. Die einzige göttliche Rechtfertigung besteht darin, diese Güter wieder in den Kreislauf zu induzieren. Geld wird damit zu Kapital verwandelt. Der Calvinismus ist daher das Schwungrad des Kapitalismus.

Calvin folgerte:
1. Die Idee einer innerweltlichen Askese, hart gegen sich und Andere zu sein. Lebenslanges Arbeiten ist Gottesdienst, nicht außerweltliche Flucht wie das Mönchtum.
2. Jeder muss sich permanent bewähren, jeden Tag sein Wissen erweitern und nicht nur einmal im Leben den Doktor machen.
3. Jeder muss sein Leben rationell führen, die knappe Ressource Zeit streng bewirtschaften, darf sich keine Auszeit nehmen.
4. Die Idee, Arbeit ist göttliche, innerweltliche Berufung.

So verkörpert es auch das Matthéesche Familienwappen seines „Stammvaters" Eugene Matthée, der in Neuchâtel lebte, das Mond und Sterne über drei Bergspitzen zeigt, und das Motto, welches auf Deutsch übersetzt in etwa heißt: „Wir schulden die Einsicht, nichts als zu arbeiten zu haben".

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