3 Die Städte und ein Dorf
3.1 Stadtentwicklung
Die deutschen Städte wurden, wie uns Prof. Matthée plastisch verdeutlicht, in drei Wellen gegründet: Vor zwei Jahrtausenden von den Römern bis zu Rhein und Donau, vor zwölf Jahrhunderten von Karl dem Großen bis zur Elbe und vor rund 750 Jahren östlich der Elbe bis in den slawischen Siedlungsraum hinein die Kolonialstädte. Der selbstbewusste Bürgerstolz nimmt nach Osten hin ab - der Untertanengeist aber zu. Nach dem bevorzugten Getränk erkennen wir die drei Siedlungswellen noch heute: das "Wein-Deutschland", das "Bier-Deutschland" und das "Schnaps-Deutschland".

Größenklassen zu Beginn des 16. Jh. 11
Einwohner von ... bis Städte im Weserraum
2.000 - 5.000 Minden, Hameln, Höxter, Warburg, Paderborn, Hann. Münden u.a.
5.000 - 10.000 Herford, Lemgo, Kassel, Hannover, Hildesheim, Einbeck, Göttingen
10.000 - 20.000 Bremen, Hamburg, Lüneburg, Soest, Erfurt
über 20.000 Braunschweig

Der natürliche Ort der Selbstdarstellung des Stadtrates ist seit dem Mittelalter das Rathaus, Sitz der Selbstverwaltung und der Gerichtsbarkeit. Von 1573 bis 1618 wurden 15 Rathäuser, die zumindest noch teilweise erhalten sind, neu oder ausgebaut in: Alfeld, Blomberg, Brakel, Bremen, Celle, (Bad) Gandersheim, Hameln, Höxter, Lemgo, (Hannoversch) Münden, Nienburg, Paderborn, Rinteln, (Bad) Salzuflen, Stadthagen. 12

Auch die bürgerliche Oberschicht entwarf von sich ein neues Selbstbild. Die einfachste Form war eine Inschrift am Haus, die immer häufiger in Latein abgefasst wurde. Daneben wurden umfangreiche Schnitzereien oder Bildhauerarbeiten angebracht, die Darstellungen der antiken Götter, der "Artes liberales" und anderer klassischer Bildungsinhalte zeigen. Auch Säulen und Grotesken schmücken die Fassaden. In Beischlag-Wangen bekannten sich die Bürger mit protestantischen Reliefs zur Reformation. Auch Ausluchten waren beliebt, wie große Fensterflächen die Stellung des Hausbesitzers hervor heben. In den Häusern waren Wandvertäfelungen, Deckenbemalungen, Öfen und Truhen als Bildträger genutzt. 13

Die absolutistischen Territorialherren brachten den Städten einen ersten Niedergang in ihrer Wirtschaftskraft und politischen Selbstverwaltung. Im Dreißigjährigen Krieg wurden viele Städte verwüstet und damit geschwächt. Sie sanken - mit wenigen Ausnahmen wie Lübeck, Hamburg, Köln, Frankfurt, Nürnberg, Augsburg und Ulm - zu Residenzen oder Ackerbürgerstädten ab. 14

3.2 Bremen
Bremen war "gleich Rom namhaft unter den Völkern des Nordens", wie Adam von Bremen, der erste bedeutende deutsche Geschichtsschreiber, im 11. Jh. schrieb. Der Fähr- und Umschlagplatz begann 787 mit der Bistumsgründung. Nachdem Kaiser Otto I. der Stadt das große Marktprivileg verliehen und ihre Kaufleute ausdrücklich in seinen Schutz genommen hatte, wurde sie geistlicher und wirtschaftlicher Mittelpunkt des Nordens von Lappland bis Island und weiter nach Westen. 1358 wurde Bremen Mitglied der Hanse. Spätestens seit der Reformation, der sich die Stadt rasch anschloss, regierten nicht Bischöfe und nicht Fürsten die Stadt, sondern Bürgermeister. Bremen wurden 1541 in einem Privileg Kaiser Karls V. neben dem Stapelrecht auf Güter wie Getreide, Mehl, Wein und Bier auch die Hoheitsgewalt und Gerichtsbarkeit über die untere Weser zugesprochen. Reichsunmittelbar wurde Bremen 1646. 15
Bildname

Im "Ratsdenkelbuch" aus der Mitte des 16. Jh. heißt es im sog. Wittheitsbeschluss: "Dat man de Slacht hinforder holden und achten wolde alse bynnen unser stadt". Die Schlacht hat aber nichts mit dem Schlachter- oder Fleischergewerbe zu tun, sondern ist eine seit Alters her gebräuchliche Bezeichnung für die städtische Hafenanlage. Das Wort "Slacht", auch "Slagde" oder "Slagte", bezieht sich auf das Einschlagen von Pfählen und Pflöcken in den Untergrund, das im niederdeutschen Sprachraum als "slachten" bezeichnet wurde. Der Schlachtehafen befand sich ursprünglich vor der um 1200 errichteten Stadtmauer, wurde aber in den nächsten drei Jahrhunderten durch Aufschüttung und Bebauung mit der Stadt verbunden. Die mittelalterliche, hölzerne Hafenanlage wurde um 1570 vollständig durch ein modernes Uferbollwerk in Steinbauweise ersetzt. Kurz danach kam uferaufwärts eine zweite, die Kleine Schlachte hinzu, um anders als die Große für die Seeschiffe hier die Flussschiffe zu be- und entladen. 16

Im 16. Jh. wurden die großen, unbeweglichen Rahsegler immer mehr von kleineren Schiffen mit geringerem Tiefgang abgelöst. Die neuen wendigen Schiffstypen - Boyer, Boot, Schmack, Hucker, Schnigge - konnten ohne Leichterung unmittelbar an die Hafenkaje heran fahren.

1618 beauftragte der Rat holländische Hafenbauspezialisten, 15 Kilometer flussabwärts bei Vegesack in der Mündung des Nebenflusses Aue ein neues Hafenbecken anzulegen. Dies war 150 Meter lang, 75 Meter breit und 3,50 Meter tief. Es sollte vor allem zwei Funktionen erfüllen: der Seehandelsflotte im Winter als Schutzhafen dienen und für große Seeschiffe die Rolle eines Vorhafens übernehmen, wo diese geleichtert (teilentladen) werden konnten.

1783 begann der Handel mit dem nun freien Nordamerika. Freie Hansestadt wurde Bremen 1806. Als die Weser mehr und mehr zu versanden drohte, gründete 1827 Bürgermeister Johann Smidt 45 Kilometer nördlich Bremerhaven. 1888 entstand der erste europäische (Zoll-)Freihafen. Trotz der starken Kriegszerstörungen sind wichtige Bauten der kaufmännisch-bürgerlichen Glanzzeit der nach Hamburg wichtigsten deutschen Hafenstadt erhalten und erneuert worden. Bremen ist jetzt Bundesland mit seinem Parlament, dem Haus der Bürgerschaft.
Bildname
Bildname
Wir näherten uns der Stadt im Bogen von Süden entlang der Weser. So kamen wir zuerst in das Schnoorviertel mit wie an der Schnur gezogenen Zweistockhäuschen aus dem 16. - 18. Jh. Einst Handwerkermilleu und Fischerquartier, ist es jetzt fest in der Hand der Touristen und bietet Antiquitätenläden und Lokale.

Dem mächtigen Kubus des gotischen Rathauses (links) in Bremen von 1405 - 12 wurde 1608 - 14 auf ganzer Breite eine  Laube vorgelagert und vor die Mittelachse ein Erker gesetzt. Ihn bekrönt ein breiter Zwerchgiebel, der von zwei kleineren, seitlichen Giebeln flankiert wird.

Eine kräftige Balustrade über dem vor springenden Traufgesims, rechteckige statt spitzbogiger Fenster und der Wechsel von Dreiecks- und Segmentbogengiebeln lassen das Rathaus auf den ersten Blick als einen Neubau der Renaissance erscheinen. Nur die Seitenfassaden verraten seinen gotischen Kern. 17

Im Innern wurde die alte Raumaufteilung weitgehend beibehalten. Das in drei Schiffe gegliederte Erdgeschoss diente bis Anfang des 19. Jh. als Kaufhalle, die große Halle von 1612 im Obergeschoss, getäfelt und mit Schnitzereien üppig geschmückt unter einer frei tragenden Decke,
Bildname

als Sitzungs- und Festsaal des Rates und als Gerichtsstätte. An der Fensterseite ist die prunkvolle Güldenkammer für vertrauliche Ratssitzungen abgeteilt. Wandbilder stellen die Gründungslegende dar. An der Rückwand, rechts vom Eingang, wurde 1532 von einem unbekannten Maler das "Urteil Salomos" (oben) mit modisch antikisierten Details dargestellt. Dieses große Wandgemälde sollte die davor sitzenden, aus den Reihen des Rates gewählten, Richter ermahnen, klug und gerecht zu urteilen. Die perspektivische Darstellung der Bibelszene wird links und rechts von je drei Halbfiguren aus dem Alten Testament flankiert, die unterhalb von lateinischen Inschriften erklärt werden. Der Rat stellte sich so als Nachfolger biblischer und antiker Vorbilder dar. 18

Mit dem Rat standen die Zünfte bei der Imagepflege im Wettbewerb. Die Bremer Kaufmannschaft ließ von Johann de Buscheneer aus Antwerpen 1537 - 38 gegenüber vom Rathaus ein aufwendiges Gebäude mit neun Achsen errichten, den Schütting. Mit dem Ostgiebel von 1565 und dem Zwerchgiebel sowie Dachzier von 1594 ragte der Schütting lange Zeit höher und prächtiger über die Dächer der Stadt auf. Den geschweiften Giebel zieren die Personifizierungen des Handels: Neptun, Merkur und Artemis. Man rühmt den "schlanken Wuchs der Hausteinfront mit ihrer stegartig schmalen Fenstergliederung". Das Prunkportal von 1899 trägt den Bremer Wahlspruch: "Buten un binnen, wagen un winnen." - "Draußen und drinnen, wagen und gewinnen".

Neben dem Rathaus steht der Roland (Bild rechts). Der Ritter Kaiser Karls wendet seit 1404 seinen Blick mit Schwert und Schild trotzig gegen den Dom und symbolisiert den Sieg der Bürger über den Herrschaftsanspruch der Geistlichkeit. Einst wohnten und arbeiteten hier die Böttcher, die Tonnen- und Fässermacher.

Die Böttcherstraße ist 75 Jahre alt - so wie wir sie heute kennen. Ihre Häuser verdanken wir dem Erfinder des "entkoffeinierten Kaffees", Ludwig Roselius, der vor hundert Jahren den ersten Schonkaffee der Marke HAG verkaufte. Das Handwerker-Gässchen unterhalb des Marktplatzes passierte der Kaufmann täglich auf dem Weg zur Arbeit. Die dort in Nr. 6 lebenden "Fräuleins Pennmeyer" überzeugten Roselius, ihnen ihr Haus abzukaufen, damit sie vom Erlös leben konnten. Er ließ die Häuser bis auf eines (von 1588, heute Roseliushaus genannt) abreißen und an ihrer Stelle vom Bremer Architekturbüro Runge und Scotland mit dem Bildhauer Bernhard Hoetger von 1926 - 31 sechs neue Häuser aus Backstein bauen.Hier ist eine Mischung aus "niederdeutscher Tradition und Avantgarde" entstanden.
Bildname

Eines der Häuser wurde unter dem Namen Paula Modersohn-Becker "weltweit das erste Künstlerinnen-Museum". Höhepunkt ist das Haus "Atlantis"; dem Dichter Daniel Defoe setzte Roselius ein Denkmal mit dem "Robinson-Crusoe-Haus". Am "Glockenspielhaus" werden 30 aus Meißener Porzellan gefertigte Glocken geläutet. Obwohl Roselius anfangs mit dem Nationalsozialismus und dessen Ideen vom "nordischen Menschen" sympathisierte, fand der NS-Staat keinen Gefallen an der Böttcherstraße. 1944 zerstörten Brandbomben die Häuser. Schonkaffee blieb auch nach dem Krieg beliebt, so dass aus den Erlösen die Böttcherstraße wieder aufgebaut werden konnte. 1988 trennte sich die Familie Roselius von ihrer Straße. Eine von der Sparkasse Bremen errichtete GmbH ist heute Herrin über die Kunst. 19

3.3 Bückeburg
Die Stadt verdankt ihre Entstehung einer um 1300 errichteten Wasserburg, die den Namen einer seit dem 12. Jh. verfallenen Vorgängerin bei Obernkirchen erhielt. Bereits 1365 wurde dem Ort vom Landesherrn Schaumburgs das Flecken-Privileg verliehen. Dem viel versprechenden Beginn folgten zwei Jahrhunderte Stagnation in dörflicher Enge. Brände verwüsteten den Ort 1541 und 1586.
Bildname
Bildname
Graf (seit 1619 Fürst) Ernst zu Holstein-Schaumburg (1601 - 22), einer der bedeutendsten Herrscher seiner Zeit, änderte dies. Er wählte 1608 nicht nur Bückeburg als Residenz und Regierungssitz, sondern verlieh im Jahr darauf dem Ort das Stadtrecht. Seine Residenz bekam hauptstädtischen Charakter. Seinem Ruf folgten zahlreiche Künstler, ihnen verdankt Schaumburg seine erste kulturelle Blüte.

Nach der Teilung Schaumburgs wurde Bückeburg Hauptstadt von Schaumburg-Lippe. Sein berühmter Landesherr, Graf Wilhelm (1748 - 77) machte sich nicht nur als Feldherr und Militär-Theoretiker einen Namen. Er berief auch Herder, Bach und Thomas Abbt hierher und verschaffte so Bückeburg einen festen Platz in der deutschen Geistesgeschichte.

Johann Gottfried Herder (oben links Büste an der Stadtkirche) war von 1771 - 76 in Bückeburg. Als Mitbegründer des "Sturm und Drang" wurde er als Konsistorialrat, Superintendent und Oberpfarrer hierher berufen. Als einer der bedeutendsten Prediger der Stadtkirche wirkte er gemeinsam mit Johann Christoph Friedrich Bach, einem Sohn des berühmten Johann Sebastian Bach.

Die Industrialisierung im 19. Jh. ließ Bückeburg fast unberührt. Die Einwohnerzahl stieg von 2.500 im Jahr 1800 auf 6.500 im Jahr 1900. Nach der Abdankung des letzten Fürsten 1918 blieb Bückeburg noch Landeshauptstadt. Seine Kreisfreiheit verlor es 1934. 1946 ging Schaumburg-Lippe (mit Braunschweig, Hannover und Oldenburg) im Land Niedersachsen auf und büßte zwei Jahre danach auch noch seine Funktion als Kreisstadt ein. 20 Mit den dreizehn eingemeindeten Ortsteilen hat Bückeburg etwa 21.000 Einwohner.
Bildname
Die Stadtkirche, erbaut von 1611 - 15, zählt zu den prächtigsten Sakralbauten der Weserrenaissance und gleichzeitig als Vorbote des Barock. Auf die im Mittelalter üblichen Westtürme verzichtete man.

Die Fassade wurde stattdessen in die Blickachse der zu ihr ansteigenden Langen Straße gerückt (Foto links). Das Hauptgesims trägt eine Inschrift: "Exemplum Religionis Non Structare" - "Dies ist ein Beispiel der Frömmigkeit, nicht der Baukunst". Doch die vergoldeten Anfangsbuchstaben ergaben den Namen ERNST, stehen also für des Bauherrn Eitelkeit. 21 Leider konnten wir nicht hinein.

Bückeburg feiert gern: Frühjahrsmarkt, Autoschau, Landpartie Schloss Bückeburg, Krengelfest, Sommerfest, Ritterspiele, Gourmet-Wochenende, Granitball, Erntefeste, Bürgerschießen, Schlosskonzerte, Oktoberfest, Herbstmarkt, Weihnachtsmarkt, Weihnachtszauber Schloss Bückeburg - das ganze Jahr kann man sich hier vergnügen.

3.4 Bad Nenndorf
Rund 25 Kilometer westlich von Hannover und 15 Kilometer südlich des Steinhuder Meeres liegt Bad Nenndorf am Nordrand des Deisters, zwischen Weser und Leine. Vermutlich Anfang des 9. Jh. entstand das Dorf "Nyanthorpe", was "neues Dorf" bedeutet, und 936 in den Urkunden des Klosters Corvey erwähnt wurde. 1136 wurde hier die erste Kirche erbaut. 1311 kam der Ort in den Besitz der Schaumburger Grafen. Seit der Teilung der Grafschaft gehörte Nenndorf zu Hessen-Kassel.
Bildname
Bildname
Die Heilkraft der schon 1546 erwähnten Schwefelquellen wurde erst zur Mitte des 18. Jh. allgemein anerkannt. Auf Initiative von Landgraf Wilhelm IX. entstand 1787 der "Gutsbezirk Nenndorf" mit Badeeinrichtungen und Kurpark. Die bis dahin wegen ihres strengen Geruches als "Teufelsdreck" verachteten Schwefelquellen gehören zu den stärksten in Europa. Sie wurden mit großem Erfolg bei Rheuma, Gicht und Hautleiden eingesetzt. Nenndorf gehörte schon bald zu den führenden deutschen Heilbädern. Jérôme Napoleon, König von Westfalen, führte das Schlammbaden ein. 1866 wurde es "Königlich preußisches Staatsbad" und expandierte weiter.

1929 wurden die Dörfer Groß Nenndorf, Klein Nenndorf und der Gutsbezirk Nenndorf zur Gemeinde Bad Nenndorf verbunden. Im Januar 2000 bekam der Ort im Landkreis Schaumburg Stadtrechte; er zählt etwa 10.000 Einwohner. Wegen rückläufiger Kurgastzahlen sieht das Staatsbad in eine ungewisse Zukunft.

Bad Nenndorf besitzt einen 34 Hektar großen Kurpark mit historischen Bauten und einem über zwei Jahrhunderte alten Baumbestand. Das Kurhaus, jetzt Hotel Esplanade (Foto oben), ließ einst Landgraf Wilhelm IX. errichten. Davor fanden wir ein Denkmal für die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel ("Die Frauen von Nidden"). Sie verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens (1879 - 1964) in Bad Nenndorf. 22

zurück   Übersicht   weiter