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4.4.5 St.-Nikolai-Kirche
Wohl gleich nach Stadtgründung wurde hier eine große Hallenkirche begonnen. Brand oder Einsturz führten zum Neubau einer Basilika nach Lübecker Vorbild (siehe 4.1.4), das wiederum der neuen Gotik in Nordfrankreich folgte. Diese älteste der drei Stadtkirchen wurde dem Schutzpatron der Seefahrer, St. Nikolaus, gewidmet und bereits 1276 im Stadtbuch erwähnt. Drei Jahre später wurde der Hochaltar geweiht (rechts seitlicher Balkon für Kirchenmusik).
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Die beiden Türme vom Beginn des 14. Jhs. trugen einst Spitzhelme, die aber 1662 dem Turmbrand von St. Jakobi durch Funkenflug ebenfalls zum Opfer fielen. Den Südturm mit 102 m Höhe schmückt nun eine Barockhaube, während sich der Nordturm mit einem flachen Notdach begnügen muss. Chor und Langhaus erreichen eine Länge von 87 m, 29 m Höhe und im Mittelschiff 12,5 m Breite, was mit 1 : 2,3 eine etwas gedrungenere Proportion als bei der gleichnamigen Kirche in Wismar ergibt (siehe 4.3.5).

Die achteckigen Pfeiler kommen aus der Baukunst der Zisterzienser in Pelplin bei Danzig. An den Pfeilern fallen plastische Kopfkonsolen aus Terrakotta auf, die sich darunter als gemalte Gestalten fortsetzen (links). Die Ausmalung müsste ursprünglich rot statt weiß gewesen sein, weil sie sehr frühzeitig entstand. In der Stadtkirche hatten einst 56 Altäre der Zünfte, Familien oder Personen Platz, insbes. an den Pfeilern im hohen Chor und im Langhaus sowie den sehr früh um 1330 angebauten Einsatzkapellen der Seitenschiffe. Im schweren Bildersturm von 1525 ging der Großteil verloren.

Der uns empfangende Pfarrer Neumann ergänzt, von den Mittelalter-Altären seien noch neun da, davon einer im Museum und einer auf Rügen. Die Begräbniskapellen sprechen dafür, dass der Tod damals nicht tabuisiert gewesen sei, sondern man mit den Toten feierte.

Der Rundgang beginnt in der Regel von der Nordseite nach dem Durchgang vom Alten Markt. Der Bürgermeisteraltar gleich vorn links vom Anfang des 16. Jhs. aus einer Stralsunder Werkstatt zeigt eine Kreuzabnahme, flankiert von St. Georg und Katharina sowie Martin. Am westlichsten Pfeiler steht ein Kreuz tragender Christus aus Holz.

Um 1708 wurde der barocke Trennaltar vom königlich-preußischen Oberbaudirektor Andreas Schlüter aus Berlin entworfen und vom Stralsunder Bildhauer Thomas Phalert geschaffen. 64 Weil man damals "etwas Modernes" haben wollte, wurde der Vorgänger als Hauptaltar an das Heilgeist-Kloster verschenkt, das ihn an das Kirchengut Wase auf Rügen weitergab. Das Bildprogramm ist reformatorisch, die Zeichen sollen hebräisch wirken, haben aber überhaupt keinen Sinn. Das "Auge Gottes" umrahmen Wolken und musizierende Engel, darüber in der vertikalen Beziehungsachse mit Gott sehen wir eine Abendmahlsszene. Bekrönt wird der Trennaltar von einer überlebensgroßen Kreuzigungsdarstellung mit Maria und Johannes zu Füßen des Kreuzes. Die Restaurierung hat etwa 350.000 Euro verschlungen; der Förderverein mit rund 750 Mitgliedern gilt als größter Kultur tragender Verein im Bundesland (außer Hansa Rostock).

Hundert Jahre älter ist die Kanzel mit ihren Reliefs aus Alabaster, die das Leben Jesu zeigen (unten). Der Korb wird von einer Moses-Statue getragen; das Portal auf der Rückseite von Petrus und Paulus flankiert.

Der Hochaltar im Chor ist gotisch um 1470 und auch aus einer Stralsunder Werkstatt. Der obere Teil des Mittelfeldes ist leider leer geräumt. Aus Sorge vor Bombenangriffen 1943 zeichneten drei Wochen lang alle Architekten die Kirche, alles Inventar wurde abgeschraubt. Die Altarteile wurden verpackt und zu umliegenden Bauernhöfen gebracht. Im strengen Winter 1946/47 wurde nicht nur das Kistenholz verheizt, sondern sich zum Teil auch an Figuren vergriffen, auch für den Schwarzmarkt.
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Soll man die Figuren nachschnitzen? In den 80er Jahren entschied man dagegen - die Originale sind unrettbar verloren. Man tut nicht so, als ob nichts gewesen wäre, sondern lässt bewusst Wunden als Mahnmal vor Krieg, weil es immer noch Menschen gibt, die Krieg für ein legitimes Mittel der Politik halten. Nun ragt ein moderner Gekreuzigter aus Kupfer hervor. Die Flügel zeigen in gutem Schnitzwerk sechs Szenen der Passion, die Predella drei aus der Kindheit Jesu.

Die herrlichen bemalten Außenflügel sind jetzt an den flankierenden Pfeilern aufgehängt mit ihren je drei Bildern aus dem Evangelium. Rechts: Anna Selbdritt, d.h. Maria hält Jesus, Großmutter Anna erzählt; hinten stehen Joachim und Josef, Kleophas und Salomas - letztere sind die späteren Gatten Annas, die dreimal verheiratet war und von jedem eine Tochter namens Maria gebar; diese beleben mit ihren Kindern den Vordergrund. 65
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Der Kruzifix stammt noch aus der zweiten Hälfte des 14. Jhs. und stand einst auf dem Triumphbalken. Das Taufbecken aus gotländischem Kalkstein ist nur leicht verziert. Links vom Hochaltar führt ein Durchgang in den Chorumgang. Dort sehen wir den Altar der Schneider aus dem späten 15. Jh., oben mit dem sog. Gnadenstuhl (Gott Vater hält seinen gekreuzigten Sohn auf dem Schoß), unten Maria mit dem spielenden Jesuskind. Die zwölf Schnitzfiguren der Klappflügel fehlen. An der Choraußenwand steht der Altar der Familie Junge von 1430 mit der "schönen Madonna des weichen Stils" (wirklich anmutend, vor allem wenn von der Sonne beschienen, links). Einer der vier umgebenden Engel ist noch vorhanden. Gegenüber reckt am Pfeiler der Schmerzensmann von 1400 seinen rechten Arm hoch. Vermutlich ältestes Teil der Ausstattung ist die Sitzstatue der Anna Selbdritt, also die 2 ½ m große Hl. Anna mit der mittelgroßen Maria und diese mit dem kleinen (kopflosen) Jesus auf dem Schoß.

Reste von Farbe tragen noch die Lippen. Diese Monumentalskulptur aus Stuck und Eichenholz mit Reliquienkästen auf der Brust stand einst in der Annenkapelle, am Eingang vom Alten Markt aus, und gilt als eine der bedeutendsten Großplastiken im Ostseeraum.

Die Astronomische Uhr auf der Rückseite des Hochaltars stammt von Nikolaus Lilienfeld aus dem Jahr 1394 und ist damit die älteste im Original erhaltene überhaupt. Es handelt sich hierbei um eine erst ein Jahrhundert zuvor erfundene Räderuhr mit mechanischer Hemmung, der nur eines von sieben Zahnrädern fehlt. Neben Tages- und Nachtzeit konnte die Stellung der Sonne, des Mondes und der Fixsterne abgelesen werden. Nur der Prospekt wurde restauriert.
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Auf der Südseite des Umganges liegt die Messing-Grabplatte für Bürgermeister Albert Hovener, gearbeitet um 1350. Sehenswert ist die stabile Archivtür von 1400 (Foto weiter unten). Drehen wir uns um, sehen wir an der Zwischenwand zum Chor vier geschnitzte Holztafeln: Sie entstanden vor 1400, stammen vom Gestühl der Nowgorod-Fahrer (siehe Kapitel 1.1) und zeigen eindrucksvoll deren Arbeit im russischen Wald. Weiter westlich an einem Südpfeiler steht ein weiterer Altar aus der Hansezeit, derjenige der Bergenfahrer um 1500 mit dem Marienleben.

Die große Hauptorgel baute Karl-August Buchholtz aus Berlin 1840 ein. 66 Von ihm stammt auch die dortige Nikolai-Orgel und sogar das Instrument in der Schwarzen Kirche zu Kronstadt in Siebenbürgen, Rumänien. Die Intonierung entspricht der Frühromantik. Infolge der Elektrifizierung in den 1930er Jahren entstanden schwere Schäden, da die 80 - 90 % Luftfeuchtigkeit hier schlecht für die Elektrik sind. Jetzt ist die große Orgel wieder rein mechanisch. Spieltisch und Holzunterbau sind neu. Bei der Farbgebung wollten alle mitreden. Der Pastor hat mit Prof. Kiesow durchgesetzt, die Empore in erdverbundener, das Instrument in heller Farbe zu halten, denn diese soll einen hellen Klang haben. Kiesow lobte die sehr gute Entscheidung: die Empore sei Bauteil, die Orgel Möbel. In der Biedermeierzeit liebte man es licht und fröhlich. Die offizielle Sprachregelung bezeichnet die Farbgebung als "Porphyton" statt "rosa". Geld wird gesammelt über Tonpatenschaften - 65 Euro pro Ton für jede der rund 4.000 Pfeifen. Die Wiederherstellung hat etwa 1,5 Mio. Euro gekostet. Abschließend sprach Pfarrer Neumann der Stiftung für etwa 1 Mio. Euro großen Dank aus, da selten so große Summen zu bekommen seien. Die Mittel dienten vor allem für die Restaurierung der Astronomischen Uhr, des Hochaltars, der Orgel und des Nordturms. St. Nikolai hat etwa 4.000 Gemeindemitglieder, der Anteil der Gottesdienstbesucher liegt etwa doppelt so hoch wie im Westen, denn wer zu DDR-Zeiten der Kirche die Treue gehalten hat, fühlt sich ihr immer noch mehr zugehörig.
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In St. Nikolai fanden nicht nur Gottesdienste statt. Sie war die Kirche der Ratsleute. In einer Nische erledigte der Ratsschreiber die Korrespondenz für Bürger, die wie die meisten nicht des Lesens und Schreibens kundig waren. Auch das Ratsarchiv war hier hinter einer prächtigen stabilen Tür untergebracht (links). Auch Märkte wurden in der Kirche abgehalten. Eine Verordnung aus dem Mittelalter untersagte, während der Messe Vieh durch die Kirche zu treiben. 67

Vielleicht stört sich der eine oder die andere an den kleinen Häusern vor der Nordwand der Nikolaikirche. Diese wollte man im Dritten Reich weg nehmen, wie Prof. Kiesow anmerkte. Doch man brauche sie als Maßstab.
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4.4.6 Klöster und Museen
Das Katharinen-Kloster gründeten 1251 die Dominikaner nahe dem Neuen Markt in der Mönchstraße. Stifter war Fürst Jaromar von Rügen. Nach der Reformation diente es für Jahrhunderte u.a. als Waisenhaus und Gymnasium. Ab 1921 zog hier der Museumsbetrieb ein, zunächst als Provinzialmuseum für Neuvorpommern und Rügen. Das Museum selbst wurde bereits 1858 begründet und ist damit das älteste in Mecklenburg-Vorpommern. Der Grundstock stammt vom schwedischen Generalgouverneur Axel Graf von Löwen (richtig, der mit dem Saal oben im Rathaus), der seine Sammlung 1761 der Stadt übereignete. Archäologie, Volkskunde, Kunst- und Kulturgeschichte werden gezeigt. 68 Das heutige Kulturhistorische Museum hat neben dem berühmten Hiddenseer Goldschmuck einen umfangreichen Bestand an Gemälden und Grafiken, betreibt schräg gegenüber das Museumshaus Mönchstraße 38 und den Museumsspeicher Böttcherstraße 23 nahe der Jakobikirche.

Die Klosterkirche dagegen wurde nach der Säkularisierung als Arsenal und Zeughaus von Schweden bzw. Preußen genutzt. 1973 wurde hier ein besonderes Museum eingerichtet, eines der meistbesuchten in Norddeutschland: das Meeresmuseum. Dazu wurde eine Stahlkonstruktion mit zwei Etagen eingezogen, so dass auf drei Ebenen alles gezeigt wird, was mit dem Meer und der Schifffahrt zu tun hat. Im Chor der Kirche hängt das Skelett eines Finnwales. - Seit einigen Jahren hat dieses Meeresmuseum Konkurrenz bekommen durch das Ozeaneum am Hafen auf der anderen Seite der Stadthalbinsel. Im Prinzip wird dort das Gleiche gezeigt, beide Standorte haben je eine Anlage mit mehreren Dutzend Aquarien. Das ältere atmet noch etwas den Charme der verflossenen DDR (mit Stolz auf seinen Fischfang-Schiffbau), das andere zeigt mit enormem Kapitaleinsatz vor allem seine Betonarchitektur.

Das Johannis-Kloster hinter dem Alten Markt an der Stadtmauer errichteten die Franziskaner ab 1254. Bis zum 14. Jh. entstand um zwei Höfe ein Baukomplex. Von der einst dreischiffigen Kirche stehen noch Teile der Außenmauern seit dem Brand von 1624. Die Klosterräume beherbergen u.a. das Stadtarchiv.

Das Heilgeist-Spital in Stralsund ist neben dem in Lübeck eines der am besten erhaltenen an der Ostsee: Die Pommern seien etwas maulfaul, meinte Herr Kiesow, eigentlich müsste es Heilig-Geist-Hospital heißen. Bereits 1256 wurde Sankt Spiritus erwähnt. Nach 1325 zog es vor die Stadtmauern. Gute Verwalter machten das Stift sehr reich: Neben 68 Dörfern gehörten ihm die Inseln Ummanz und zuletzt auch Hiddensee westlich von Rügen. 69

Die Spitalkirche stammt vom Beginn des 15. Jhs. Die vierjochige Hallenkirche mit geradem Chorschluss ist mit einem Sterngewölbe über der vermuteten Altarstelle und ansonsten mit Kreuzgewölben ausgestattet. Die Spitalkirche dient heute der Jakobi-Gemeinde, deren Kirche zur Kulturhalle umgebaut wird. Ein Dachreiter bekrönt den Westgiebel.

Den Innenraum beherrscht der spätbarocke Hochaltar von vor 1770. Das Gemälde zeigt die Auferstehung Christi, darüber das Pfingstwunder, dazwischen das göttliche Dreieck für die Trinität. Seitlich stehen die vier Evangelisten in bewegten Schnitzfiguren. Die Fenster vom Ende des 19. Jhs. bilden Gustav Adolf, Martin Luther und Christian Ketelhot als Stralsunds Reformator ab. Einer der beiden Bronzeleuchter zeigt die Figur des "Fischweibchens". Die einst von Buchholz stammende Orgel wurde 1960 von Schuke aus Potsdam umgestaltet.
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An den Chor sind zwei parallele Langhäuser um den sog. Klostergang angebaut seit 1645, wo alte und der Pflege bedürftige Menschen auf zwei Stockwerken untergebracht waren. Die Galerie dazwischen war Vorbild für das Rathausinnere. Zur Hafenseite steht das lang gezogene sog. Elendenhaus, nach Süden mehrere Klosterbuden. Alles ist jetzt mit Mitteln der Städtebauförderug und 1,5 Mio. DM von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz fein herausgeputzt und eine begehrte Wohnlage. 70

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